Theoretischer Hintergrund der Schriftvergleichung
Grundlage der vergleichenden Handschriftenuntersuchung bildet die Erfahrungstatsache, dass die Handschrift als grafische Objektivierung einer Schreibhandlung unter normalen Bedingungen zwischen verschiedenen Personen mehr oder minder unverwechselbar ist und innerhalb eines Schreibers über verschiedene Zeitpunkte hinweg relativ stabil bleibt. Dabei bestimmen die besondere Konfiguration und Variation der grafischen Merkmale den Grad der Eigenprägung.
Die Einmaligkeit ihrer Ausprägung macht die Handschrift als Mittel für den Sachbeweis im Rahmen von Echtheits- bzw. Urheberschaftsprüfungen zu einer Spur von hohem Stellenwert, da sie direkt zu ihrem Urheber führen kann. Damit kommt der Handschrift die gleiche Beweiskraft zu, wie z.B. den Merkmalen des Fingerabdrucks oder der menschlichen Erbinformation (DNS).
Methodik der vergleichenden Handschriftenanalyse
Physikalisch-technische Schriftuntersuchung
Mit Hilfe physikalisch-technischer Untersuchungen ist es möglich, für das menschliche Auge nur eingeschränkt oder nicht (mehr) wahrnehmbare physikalische und grafische Merkmale zu erkennen und objektiv zu dokumentieren. Diese urkundentechnischen Untersuchungen werden in der Regel vor der eigentlichen schriftvergleichenden Analyse durchgeführt. Da sie ausschließlich physikalischer Art sind, sind sie im allgemeinen zerstörungsfrei. Weiterführende chemischen Untersuchungen (z.B. Analyse von Kugelschreiberpasten) fallen in den Zuständigkeitsbereich des Urkundenexperten.
Physikalisch-technische Überprüfungen können ohne Einschränkungen nur anhand von Schreibleistungen im Original durchgeführt werden.
Das Standardgerät des Handschriftenexperten ist das Stereomikroskop. Mit diesem Gerät ist es möglich, entscheidungsrelevante Details des Schreibdruckverlaufs, der Strichbeschaffenheit und der Bewegungsführung unter Verwendung verschiedener Beleuchtungsarten (Auf-, Durch- und Streiflicht) exakt zu erfassen.
Zur Untersuchung von latenten Schreibdruckspuren auf einem fraglichen Schriftträger wird der "Electrostatic Detection Apparatus" (ESDA) eingesetzt. Mittels ESD-Verfahren kann u.a. auch geprüft werden, ob der fragliche Schrifträger Vorzeichnungsspuren, Rasuren oder mechanische Tilgungen enthält.
Ein weiteres urkundentechnisches Verfahren ist die Untersuchung des Reflexionsverhaltens von Schreibmitteln im infraroten Spektralbereich (spektralselektive Untersuchung). Je nach Ausgangslage ist es mit dieser physikalisch-optischen Methode z.B. möglich, Vorzeichnungsspuren bei indirekten Pausfälschungen oder (nachträgliche) handschriftliche Zufügungen/Ergänzungen nachzuweisen und zugleich bildlich zu dokumentieren.
Bei der Befunderhebung und Befundbewertung wird der Handschriftenexperte ständig mit dem Problem der Merkmalsübereinstimmung bzw. -abweichung konfrontiert. Da die habituelle Handschrift eines jeden Schreibers innerhalb einer bestimmten Bandbreite mehr oder weniger variiert, stellt sich immer wieder die im Zusammenhang mit der Bewertung der Befunde wesentliche Frage, wie merkmalsgleich, d.h. übereinstimmend Schriften überhaupt sein können, ohne von derselben Person zu stammen bzw. wie merkmalsverschieden Schriften sein können, um trotzdem noch von derselben Person zu stammen.
Im Rahmen der schriftvergleichenden Befunderhebung wird je nach physikalischer und grafischer Beschaffenheit sowohl das fragliche als auch das Vergleichsschriftmaterial hinsichtlich folgender sieben grafischer Grundkomponenten geprüft und vergleichend gegenübergestellt, wobei der methodische Grundsatz "Vom Allgemeinen zum Speziellen" konsequent verfolgt wird:
Schlussfolgerungen als Wahrscheinlichkeitsaussagen
Die hypothesengeleitete Interpretation der in der schriftvergleichenden Analyse erhobenen Untersuchungsbefunde stützt sich auf die Werthaltigkeit der ermittelten grafischen Übereinstimmungen und/oder Abweichungen.
Unterschiede zwischen den untersuchten Schriften sprechen gegen Identität, wenn sie sich nicht erklären lassen (z.B. durch Schriftverstellung oder andere äußere oder innere Entstehungsbedingungen). Für den Nachweis der Urheberidentität müssen Übereinstimmungen in werthaltigen Merkmalskonfigurationen vorliegen, die insgesamt vielgliedrig genug sind und in welchen die Einzelmerkmale eine hinreichend hohe Spezifität aufweisen. Der sichere Nachweis kann nicht in jedem Fall geführt werden. Ob und inwieweit eine Urheberschaftsaussage möglich ist, hängt nicht zuletzt von der Ergiebigkeit der fraglichen Schreibleistung (materielle Beschaffenheit, Umfang, grafische Komplexität und Eigenprägung) sowie der Repräsentativität des Vergleichsschriftmaterials ab. Bisweilen führen Unzulänglichkeiten im Schriftmaterial zu Einschränkungen im Bedeutungsgehalt oder verhindern eine schlüssige Aussage gänzlich.
Art und Gewicht der festgestellten Entsprechungen und/oder Abweichungen zwischen den fraglichen Schreibleistungen und dem handschriftlichen Referenzmaterial führen zu einer Schlussfolgerung, die als Wahrscheinlichkeitsaussage innerhalb einer hierarchisch gegliederten Bewertungsskala mitgeteilt wird. Neben einer neutralen Stufe ("mit indifferenter Wahrscheinlichkeit") werden mit zunehmender Aussagekraft fünf verbale, richtungsweisene Bewertungsstufen unterschieden. Anhand der Wahrscheinlichkeitsskala kann der jeweilige subjektive Sicherheitsgrad des Sachverständigen hinsichtlich der Zutreffenswahrscheinlichkeit von Entstehungshypothesen eingeordnet werden:
- mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
- mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit
- mit hoher Wahrscheinlichkeit
- mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
- mit leicht überwiegender Wahrscheinlichkeit
- mit indifferenter Wahrscheinlichkeit, nicht entscheidbar
Abgrenzung zur Graphologie
Es kommt relativ häufig vor, dass Außenstehende die Schriftvergleichung der "Graphologie" gleichsetzen. Während aber die Graphologie versucht, einen Zusammenhang zwischen Schrift und Persönlichkeit herzustellen, beschäftigt sich die gerichtliche Handschriftenvergleichung mit schriftlichen Erzeugnissen aller Art zur Ermittlung ihrer Echtheit oder Unechtheit sowie zur Identifizierung des Schrifturhebers.
Der Graphologe deutet die Merkmale der Handschrift charakterologisch und erarbeitet ein Persönlichkeitsbild; der Handschriftenexperte hingegen beschäftigt sich in der Regel mit der Frage nach der Identität oder Nichtidentität von Schriften.
Quelle: www.schriftvergleich.de